Reutlingen

Hausberg: Das klingt nett und freundlich und etwas nach Anhängsel. Aber bis in die Neuzeit war die Achalm viel öfter Bedrohung, Feindesland oder Wachtposten eines mächtigen Gegners, der in der herrschaftlichen Burg über der Reichsstadt thronte. Erst im Jahr 1950 wurde der Gipfel des Hausbergs mit seinem auf den Burgfundamenten errichteten Aussichtsturm tatsächlich städtisches Eigentum. 2009 erwarb die Stadt Reutlingen die ganze Achalm.

Trotzdem waren Burg und Stadt immer eng verbunden. Dass die beiden Achalm-Grafen ihren Herrenhof in Dettingen verließen und zwischen 1030 und 1050 die Höhenburg bauten, nach der sie sich fortan nannten, prägte auch die darunterliegende Siedlung. Was ursprünglich aus mehreren alemannischen Weilern bestand, wuchs zusammen zur Stadt, von den Staufern mit den dazugehörigen Rechten ausgestattet. Befestigungsanlagen mit Graben, Mauern und Türmen schlossen sich seit dem frühen 13. Jahrhundert zum wehrhaften Ring zusammen. Ein wichtiger Durchlass, das Tübinger Tor, steht noch heute. Und auch wenn von der alten Wehrmauer nur noch Reste erhalten sind: Ihr Verlauf ist dem Stadtbild nach wie vor anzusehen.

Die erste Bewährungsprobe für die Reutlinger Mauern kam bereits 1247, als ein Heer des (damals bereits  verstorbenen) Gegenkönigs Heinrich Raspe die stauferfreundliche Stadt belagerte. Aus dieser Zeit stammt eine der schönsten Erzählungen der Reutlinger Stadtgeschichte, Gründungsmythos für die gotische Marienkirche und Symbol für das Selbstbewusstsein einer aufstrebenden Reichsstadt. Die Belagerer sollen, durch die Gegenwehr aus der Stadt in die Flucht geschlagen, ihren Rammbock zurückgelassen haben, einen gewaltigen Stamm mit eiserner Spitze. Die Reutlinger schafften die Trophäe in die Stadt und nahmen sie als Maß für das Längsschiff der Marienkirche, die sie zum Dank für ihren Sieg erbauen ließen. In der Kirche hatte das kriegerische Beutestück einen Ehrenplatz, bis es im 16. Jahrhundert ans Rathaus umzog. Um den sperrigen Balken aus der Kirche zu bekommen, soll ein Loch in die Chorwand geschlagen worden sein. Zumindest dieser Teil der Geschichte ist nachprüfbar: In der Chorwand findet sich tatsächlich ein später zugemauertes Loch. Zusammen mit dem Rathaus – so die Reutlinger Erzählung weiter – ist der Rammbock beim großen Stadtbrand 1726 zu Asche geworden. Der Künstler HAP Grieshaber hat die Episode künstlerisch verarbeitet und für seinen »Sturmbock« Szenen aus der Stadtgeschichte in einen zwölf Meter langen Holzstamm geschnitten.

Kämpfe hatten die Reutlinger häufig zu bestehen. Meistens ging es gegen die großen ewigen Rivalen, die Herren von Württemberg. So zum Beispiel 1377 in der Schlacht bei Reutlingen, als Graf Ulrich mit seinen auf der Achalm stationierten Gefolgsleuten einer auf Beutezug befindlichen Bürgertruppe den Rückweg aus dem Ermstal abzuschneiden versuchte. Die Reutlinger siegten blutig. 1519 eroberte Herzog Ulrich die Stadt, um den Tod seines Achalm-Vogtes zu rächen, der von zwei Reutlingern erstochen worden war. Doch die Reichsstände des Schwäbischen Bundes eilten zu Hilfe, der Herzog musste fliehen.

Jahrhundertelang war die freie Reichsstadt Reutlingen eine Insel in württembergischem Gebiet, ein autonomes kleines Reich mit eigener Verfassung und einer in Zünften einflussreich organisierten Handwerkerschaft, mit Zollstationen und eigener Gerichtsbarkeit. Eine Besonderheit dabei war das Reutlinger Asyl: Wer ohne Vorsatz einen Menschen erschlagen hatte, konnte hier Zuflucht finden. Aber nicht nur an Wohlstand, auch an Fläche wuchs die Stadt, die sich im 14. und 15. Jahrhundert Nachbardörfer wie Wannweil, Ohmenhausen, Betzingen und Gomaringen einverleibte. Anfang des 19. Jahrhunderts endete die weitgehende Selbstständigkeit: Reutlingen wurde Teil des angehenden Königreichs Württemberg.

Seit 1343 wacht der goldene Engel auf der Turmspitze der Marienkirche über die Stadt. Die Häuser und Straßen zu seinen Füßen haben sich sehr verändert, manchmal kaum merklich über lange Zeit, manchmal dramatisch innerhalb weniger Stunden. So im Jahr 1726, als ein verheerendes Feuer rund achtzig Prozent der Reutlinger Gebäude vernichtete – lediglich der südwestliche Teil der Stadt blieb verschont. Dort stehen deshalb einige der ältesten erhaltenen Häuser Reutlingens: der frühere Pfleghof des Klosters Königsbronn, in dem heute das Heimatmuseum untergebracht ist, das als Kunstmuseum genutzte Spendhaus, das Gebäude des Friedrich-List-Gymnasiums, benannt nach dem Reutlinger Nationalökonom und Eisenbahnpionier. Die Marienkirche, seit der vom »schwäbischen Luther« Matthäus Alber unterstützten Reformation evangelische Pfarrkirche der Stadt, wurde ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen. Nur die Südsakristei mit ihren mittelalterlichen Wandmalereien blieb verschont. Ihr heutiges Gesicht verdankt die Marienkirche einer Renovierung um die Wende zum 20. Jahrhundert. Der renommierte Architekt Heinrich Dolmetsch hat hier sein Idealbild eines gotischen Baus verwirklicht.

»Es gibt wenig Orte im Königreiche, wo eine solche Gewerbsthätigkeit herrscht, wie in Reutlingen; zwar findet man wenig oder gar keine Fabriken, aber ganz Reutlingen ist eine Fabrik.« So wird 1824 die noch junge Oberamtsstadt beschrieben. Hunderte Gerber, Buchdrucker und Spitzenwirkerinnen produzierten die typischen Reutlinger Waren, die unter anderem mithilfe der Eninger Hausierer unter das Volk gebracht wurden. Die Industrialisierung und der Eisenbahnanschluss 1859 brachten die »Fabrik Reutlingen« vollends auf Touren. Hier wurden Erfolgsgeschichten geschrieben wie die des Textilunternehmens Gminder, das von der handwerklichen Färberei zum mehrere Fabriken umfassenden Großbetrieb mit 2700 Arbeiterinnen und Arbeitern wurde. Viele von ihnen lebten im von Theodor Fischer gestalteten Gmindersdorf, einer Arbeitersiedlung, gebaut von den Fabrikbesitzern.

Soziales Engagement und Unternehmertum vereinigte auch der Theologe und Sozialreformer Gustav Werner, der an der Echaz zunächst eine Papierfabrik und später die Maschinenfabrik zum Bruderhaus errichten ließ, um benachteiligten Menschen Gemeinschaft und Arbeit zu bieten. Wohl kein Teil Reutlingens hat sich so grundlegend verändert wie das frühere Bruderhaus-Gelände. Nur der Backsteinbau des »Krankenhäusle« ist aus Gustav Werners Zeit geblieben. Heute dehnt sich hier der Bürgerpark mit der Stadthalle aus. Aber nicht nur christlich-soziales Gedankengut gedieh. Mit dem aus Hohenheim zugezogenen Gärtner Eduard Lucas und seinem Pomologischen Institut wurde die Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Mekka des modernen Obstbaus.

Ungefähr ein Viertel der Stadt lag nach den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs in Trümmern. Und auch die Wirtschaftswunderjahre haben Reutlingen manch alte Bausubstanz gekostet. In damals moderner Beton-Bauweise entstand in den 1960ern der Gebäudekomplex des Rathauses. In den 1970er Jahren verschwand nahezu spurlos das frühere Gerberviertel mit seinen sich am Echazufer drängenden Häusern und Werkstätten, liebevoll »Klein Venedig« genannt. Wo früher die Stadtmauer verlief, säumen heute Straßen die Altstadt.

Historische Schwarzweißfotografie der Innenstadt von Reutlingen. Abgebildet ist die Ecke Karlstraße/Wilhelmstraße in Richtung Listplatz.
© Historische Schwarzweißfotografie der Innenstadt von Reutlingen. Abgebildet ist die Ecke Karlstraße/Wilhelmstraße in Richtung Listplatz.
Stadtarchiv Reutlingen S 103 Nr. 1442 / Näher

Luftbildaufnahme von Reutlingen.

Luftbildaufnahme von Reutlingen.

Luftbildaufnahme von Reutlingen. Zu erkennen ist unter anderem die Stadthalle.

Luftbildaufnahme von Reutlingen. Zu erkennen ist unter anderem die Stadthalle.

Luftbildaufnahme von Reutlingen.

Luftbildaufnahme von Reutlingen. Im Fokus ist der Marktplatz zu sehen.

Luftbildaufnahme von Reutlingen. Im Fokus ist der Marktplatz zu sehen.

Luftbildaufnahme von Reutlingen. Im Fokus ist der Marktplatz zu sehen.

Luftbildaufnahme von Reutlingen. Im Fokus steht die Stadthalle.

Luftbildaufnahme von Reutlingen.